Baureihe 471 / 871 im Selbstbau
Artikel aus dem Jahr 1999.
Vor einigen Jahren konnte man als Hamburger Modellbahner noch hoffen,
dass sich vielleicht einmal ein Hersteller dazu entschließen würde,
einen Hamburger S-Bahnzug der Baureihen 471, 470 und 472 auf den
Markt zu bringen. Doch die große Geschichte machte die kleinen
Hoffnungen vor einigen Jahren zunichte: Nach der deutschen
Wiedervereinigung hielt die Berliner S-Bahn Einzug in
die Modellbahnwelt.
Glück für die Berliner, Pech für die Hamburger, denn dass sich ein
Hersteller jetzt noch dazu entschließt, auch einen Hamburger S-Bahnzug
ins Programm zu nehmen, ist unwahrscheinlich. Da hilft nur noch eins:
selbst bauen.
Die Idee geisterte mir schon einige Zeit im Kopf umher, aber es erschien
lange unmöglich. Modellbauerfahrung hatte ich
nur vom Zusammenkleben vorgefertigter Gebäude-Bausätze für die
Modellbahnanlage und jetzt wollte ich ohne Bausatz und ohne Pläne,
sozusagen aus dem Nichts einen ganzen Zug auf die Schienen stellen, in
der Ausgestaltung so originalgetreu wie möglich, wohlwissend, dass man
an die industriegefertigten Modelle von heute mit ihrer modernsten
Elektronik und ihrer feinsten Beschriftung nie herankommen würde.
Wie die Dinge ihren weiteren Lauf nahmen, kann der interessierte Leser
und potentielle Nachahmer in den folgenden Abschnitten lesen.
59 Jahre im Dienst
In Hamburgs S-Bahnnetz, das von der S-Bahn Hamburg GmbH (einer Tochter
der DB AG) betrieben wird, verkehren heute
drei Baureihen. Die BR 472 / 473 seit 1974, die BR 470 / 870 seit 1959 und
die Oldtimer der BR 471 / 871 (ehem. ET / EM 171). Diese sind die ältesten
noch im Liniendienst
stehenden Triebfahrzeuge der Deutschen Bahn und wurden ab dem Jahre 1939
ausgeliefert. Alle Baureihen sind dreiteilige Triebwagen (2 Endwagen,
1 Mittelwagen, zusammen etwa 60 m lang). Der Antrieb erfolgt über
1200 V-Gleichstrom-Motoren, die aus einer seitlichen Stromschiene gespeist
werden. Im Betrieb verkehren Kurzzüge mit drei Wagen und Vollzüge mit sechs
Wagen. Aus drei Zügen der beiden neueren Baureihen können auch Langzüge
mit neun Wagen gebildet werden. In Vollzügen können Züge aller Baureihen
miteinander gekuppelt werden. Die Züge verkehren seit 1996
vollständig auf eigenen Gleisen, oft parallel zum Fernverkehr.
Weitere Informationen zum Vorbild finden Sie unter
www.hamburger-s-bahn.de.
Einige Gründe sprachen dafür, die Baureihe 471 zum Nachbau zu wählen. Zum
einen sind die Jahre der über ein halbes Jahrhundert alten Veteranen
langsam gezählt, denn 103 neue Züge werden seit Ende 1996 ausgeliefert
werden (Baureihe 474). Zum anderen ist die Formgebung, besonders die des
Führerhauses, bei diesen Zügen einfacher nachzubauen als die der beiden
anderen Baureihen.
Schwieriger wird da schon die Wahl der Epoche, denn die innere und äußere
Ausstattung der Züge war in den letzten 56 Jahren natürlich vielfältigen
Veränderungen unterworfen. Hier fällt besonders die Lackierung auf.
Ursprünglich waren alle Züge in graublau/beige
lackiert. Seit Einstellung der BR 472 wurden jedoch bereits viele Züge
in den (damals) aktuellen Farben ozeanblau/elfenbein umlackiert. Ich habe
für mein Modell die ursprüngliche Farbgebung gewählt, weil sie einfach
besser zu den Zügen passt.
Eine weitere Variation gibt es bei der Stirnbeleuchtung. Sie bestand
zunächst nur aus zwei Scheinwerfern, in denen eine weiße und eine rote
Lampe installiert war. Später wurde ein drittes Signal über dem Führerhaus
angebracht. Außerdem wurden bei umfangreicheren Modernisierungmaßnahmen
bei vielen Zügen die alten Schiebefenster durch neue kunststoffgefasste,
zweigeteilte Fenster ausgetauscht. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die
großen Scheinwerfer durch jeweils zwei getrennte Lichter für weiß und
rot ersetzt. Auch hier wählte ich der Einfachheit halber die ursprüngliche
Version.
Im Gegensatz dazu ist die Beschriftung neueren Datums. Der Mittelwagen
war bis 1956 2. Klasse und die Endwagen 3. Klasse. Außerdem gab es
Raucher- und Nichtraucherabteile, die durch eine Trennwand in der Mitte
jedes Wagens getrennt waren. Nachdem ich in ganz Hamburg keine
passenden 3. Klasse-Schilder gefunden hatte, kamen meine Fahrgäste in
den Genuss der 1. Klasse im Mittelwagen und der 2. Klasse in den Endwagen.
Das Rauchen ist in meinem Modellzug aus Prinzip verboten; die Trennwand
jedoch, die im Vorbild schon lange ausgebaut ist, habe ich aus
Stabilitätsgründen behalten.
Allgemein lässt sich sagen, dass man bei der Wahl dieser oder jener Version
eines Details nichts falsch machen kann. Aufgrund der Menge der Züge und
des Mangels an Zeit zogen sich Umbaumaßnahmen oft über Jahre und
Jahrzehnte hinweg. So hat der Wagen 471401 heute noch die Holzbänke der
ehemaligen 3. Klasse.
Mit dem Zollstock unterwegs
Wie bereits erwähnt, wurde der gesamte Zug von Grund auf selbst geplant
und gebaut. Zunächst kann man sich in der Hamburgensien-Sammlung der
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zahlreiche Bücher und
Veröffentlichungen ansehen. Man wird sicherlich einige brauchbare
Materialien wie Bauskizzen, Zeichnungen und Fotos finden, die man sich
kopieren kann. Wenn man dann aber wirklich mit der genauen Bauzeichnung
beginnen will, fehlen einem viel zu viele Angaben, denn wie groß der
Abstand zwischen den beiden Türfenstern ist, steht in keinem Buch.
Ich habe in dieser Situation nicht lange überlegt, sondern mir einen
Zollstock genommen und bin in Hamburg S-Bahn gefahren, auf der S1, der
Stammstrecke der 471er, von Berliner Tor nach Poppenbüttel und zurück.
Während der Fahrt habe ich den Innenraum vermessen (Wände, Durchgänge,
Einrichtung usw.) und an den Haltestellen bin ich hinausgesprungen, habe
zwei oder drei Maße an der Außenwand genommen (Türen, Fenster, Lackierung
usw.) und bin nach dem "Zurückbleiben bitte" wieder
hereingesprungen.
Die übrigen Fahrgäste fanden mein Verhalten ziemlich amüsant und ein
Kontrolleur fragte tatsächlich, ob ich denn hier einziehen wollte.
Ausgerüstet mit diesen Maßen wurde dann vom Mittelwagen und einem Endwagen
eine Zeichnung im Maßstab 1:87 angefertigt. Die Bauweise des Modells ging
aus diesen Zeichnungen noch nicht hervor, sondern ergab sich erst während
der Bauphase selbst. Es lässt sich sowieso sagen, dass der Großteil des
Modells nach dem Prinzip "Trial-and-Error" entstanden ist.
Man sollte gerade als Anfänger nicht versuchen, schon vor dem Baubeginn
festzulegen, wie und woraus etwas gebaut werden soll. Meistens ergibt sich
die günstigste Lösung eines Problems erst dann, wenn man kurz davor
steht.
Das Modell
Da mein Modell nicht nur in der Vitrine stehen sollte, musste ich mir über
das Stromsystem keine weiteren Gedanken machen: Eine große Märklin-Anlage
war vorhanden, also musste auch mein Zug ein "Märklin"-Modell
werden. Das Modell entstand fast ausnahmslos im Selbstbau. Eine Ausnahme
bilden die Drehgestelle. Ich brauchte fünf Drehgestelle und ein
Drehgestell mit Motor, denn die Räder an der Drehbank selbst herzustellen,
hätte wohl etwas zu weit geführt. Die passenden Teile fand ich
beim ETA 515 (altes Modell). Die ersten beiden Drehgestelle kaufte ich beim
Fachhändler über den Ersatzteilservice. Da sich diese wirklich als geeignet
zeigten, habe ich später auf einem Flohmarkt einen vollständigen ETA 515
erstanden, dem ich den Motor und die drei übrigen Drehgestelle entnommen
habe. Während beim Vorbild alle Drehgestelle der beiden Endwagen
angetrieben sind, befindet sich der Motor bei mir im ersten Drehgestell eines
Endwagens. Dort ist er besonders gut aufgehoben, denn er stört nicht bei
der Montage der Kupplungen und ist nicht zu sehen, weil er genau im
Gepäckabteil liegt.
Die Kupplungen zwischen den Wagen sind Roco-Kurzkupplungskulissen mit
Normaufnahme und eingesteckten Märklin-Kurzkupplungen, weil diese kürzer
sind als die Roco-Kupplungen. Wegen der Drehgestelle liegen die Kupplungen
etwas höher als normal.
An den Zugspitzen befinden sich gekaufte Scharfenberg-Kupplungen, die aber
nicht betriebsbereit sind. Es wird auch kaum möglich sein, vorbildliches
Aussehen, Funktionsfähigkeit und gute Kurvengängigkeit gleichzeitig
zu realisieren. Außerdem habe ich ja nur einen Zug.
Fenster und Türen lassen sich natürlich nicht öffnen, jedoch ist die
Zugzielanzeige über dem Führerhaus auswechselbar. Die gesamte Beleuchtung
(Zugzielanzeige, Scheinwerfer und Innenbeleuchtung) ist mit
stromsparenden und langlebigen Leuchtdioden ausgeführt. In den Scheinwerfern
befinden sich Zweifarben-LEDs, die bei entsprechender Schaltung sowohl
gelb als auch rot leuchten können. Neuerdings gibt es sogar Dreifarben-LEDs
mit den Farben Rot, Grün und Blau, mit denen ein weißes Spitzensignal
machbar wäre. Diese Spezial-LEDs sind aber noch teuer und außerdem passen
sie nicht hinter die Zugzielanzeige, die dann weiterhin gelb leuchten
würde.
Die Außenwände sind mit dem Dach fest verbunden. Dieses Gehäuse
umschließt den Rahmen des Fahrgestells und liegt außen auf der Bodenwanne
auf. So sind keine Schrauben nötig und das Gehäuse kann bei Bedarf schnell
abgenommen werden. Die Stromversorgung vom Fahrgestell zu den Leuchtdioden,
die sich im Gehäuse befinden, geschieht über eine Steckverbindung, so dass
die beiden Teile nicht mit Kabeln verbunden sind.
Werkstoffe
Das Modell besteht im Wesentlichen aus Kunststoff (Polystyrol), Holz
und Messing. Aus unterschiedlich starken Polystyrolplatten wurden die
Seiten- und Stirnwände, die Türen und die Trennwände im Wagen
hergestellt. Dieser preiswerte Kunststoff ist mit Messer und Feile leicht
zu bearbeiten und lässt sich durch Erwärmen mit einem Heißluftfön auch zu
einem Führerhaus formen. Auch der zunächst befürchtete Angriff des
Lösungsmittels im Lack auf die Oberfläche blieb aus. Die
Fenster sowie das Scheinwerferglas und die Zugzielanzeige bestehen aus
1 mm starkem glasklarem Kunststoff (sehr gut eignen sich hierfür z. B.
Pralinen-Kästen). Die passgenau gefertigten Fenster wurden in die
Öffnungen in den Seitenwänden eingesetzt und mit einem Streifen Tesa-Film
von innen befestigt. So sind sie einerseits fest und können andererseits
bei Bedarf wieder entnommen werden.
Dach und Bodenwanne bestehen aus 5 mm starkem Sperrholz. Mit
Tischkreissäge, Schmirgelpapier und Feile
lassen sich die gewünschten Formen herausarbeiten. Etwas kompliziert ist
dabei nur die in das Dach integrierte Zielanzeige. Hier muss sehr genau
auf die Symmetrie geachtet werden. Zur Vermeidung einer Kopflastigkeit
sollte das Dach innen etwa 3,5 mm tief ausgehöhlt werden. Die Sitzbänke
bestehen aus 5 mm-Vierkantholz. Auch dabei kann man einige Mark sparen,
denn solche Profile liegen nach Silvester überall in der Gegend herum.
Aus Messingprofilen und Teilen, die aus 1 mm starkem Messingblech
gefertigt wurden, bestehen die Fahrgestelle, an denen der Motor und
die Drehgestelle befestigt sind. Wegen der notwendigen
Stabilität sollte man hier keinen Kunststoff verwenden. Ebenfalls
aus Messing bestehen die Scheinwerfer und die Trittbretter.
Für die Lackierung wurde Original-Lack verwendet. Es handelt sich um
die Farbtöne Graublau (RAL 5008) und Beige (RAL 1001). Das Dach sollte
in einem matten Dunkelgrau gehalten werden (z. B. RAL 7012).
Lackier-Enthusiasten können sich bei diesem Modell voll ausleben, denn
die Außenhaut der Originale gleicht inzwischen einem Flickenteppich aus
alten, ausgeblassten und neuen, glänzenden Stellen.
Zusammenfassung
Verteilt über etwa 2 Jahre ist im Selbstbau ein dreiteiliger, fahrtüchtiger
Triebwagenzug entstanden, der von keinem Modellbahn-Hersteller angeboten
wird. Ich möchte alle Eisenbahnfreunde, deren Wunschmodell es nicht zu
kaufen gibt, dazu ermuntern, sich ebenfalls Gedanken über einen Selbstbau
zu machen. Es gibt natürlich die eine oder andere Schwierigkeit zu
überwinden, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Schließlich ist dieser
Zug auch mein Erstlingswerk.

Ingo Lange
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